DIE JÄGERIN Teil 2







Der Geist der Ahnen

Die sinkende Sonne brannte auf ihren Nacken, als die Jägerin die Zunge unter einem Stamm vergrub.

Gewandt kletterte sie die Geröllhalde hoch, die jetzt wieder solide und fest zu sein schien. Sie kletterte bis zu jener unauffälligen Stelle, um dort die Zunge tief unter dem rottenden Holz zu vergraben. An einem Platz, den sie niemals mehr wieder finden würde. An dem sie nie wieder, weder in diesem Leben oder im nächsten zurückkehren würde.
So verlangte es das Ritual.
Nur so wurde die Zunge zu einer mächtigen Geisterzunge. Das vollkommene Ritual würde ihr das-Verstehen-von-allem verleihen.
Sie flüsterte leise, aus großem Respekt.
 „Ihr Ahnen, helft mir.“ 
Dabei schreckte sie einen Marder auf. Er flüchtet von den oberen Etagen in den Laubkronen hinunter in das Unterholz: eine braune Bewegung in grünen Schatten aber eine Antwort erhielt sie keine.
Sie erwartete auch keine.
Zu oft schon war sie auf das Unwahrscheinliche gestoßen und war dem Unmöglichen ausgeliefert gewesen, um ihre Welt mit ihren eigenen Erwartungen einzuschränken. Und so nahm die Jägerin wieder die Spur des Wolfes auf. Seinem Weg hinunter ins Tiefland.
Wie lange wanderte sie seitdem schon aus diesen Bergen hinaus? Sie dachte über einzelne Abschnitte ihres Weges nach: den Boden, der so nass war, dass sich jeder seiner Fußabdrücke sofort mit Wasser füllte,  Äste so dicht belaubt, dass sie kein Sonnenlicht mehr durchließen, Unterholz so verwachsen, dass sie kaum eine Armeslänge hinein sah. Sie folgte einem Bach, der hinunter führt in ein tiefes Tal.



Die Jägerin, so sagte sie sich, würde auf Menschen treffen, wenn sie weiter hinunter ins Tiefland wanderte.
Sie brauchte deshalb einen neuen Namen. Sie brauchte eine neue Identität. Doch dieser Gedanke machte ihr auch Angst. Sie fürchtete, ihr vertrautes Selbst zu verlieren: jene Seele als namenlose Jägerin, die im Einklang mit ihrer wahren Natur war. Dafür sollte ein Name stehen. Ein Name, den auch die Ahnen und die Geister verstehen werden. Es sollte ein Name sein, der am wenigsten schädlich ist und der den Ruf oder die Stimme eines Tieres nachahmt.
Und dafür war sie bereit, Opfer zu bringen.
Sie hatte ihren Körper mit Zweigen abgerieben, bis ihre Haut blutete. Sie hatte ihre langen schwarzen Haare mit einem Rindenstreifen zusammengebunden und sie hatte gefastet.
Das Opfer, das sie bringen wollte, sollte unter einem neuen Namen dargebracht werden. Alles, das mit ihrem Leben als Jägerin verbunden war, jede Erinnerung, sollte mit einem neuen Namen enden.
Noch einmal lachte sie, als ihr die jüngste Begegnung mit den Die-dem-Tod-trotzen einfiel. Als ob sie selbst so wichtig für jene wäre, die Jahrhunderte überdauern. Welche Närrin sie doch war. Diese eigene Wichtigkeit, ein Wesenszug des Menschen, musste sie loswerden. Sie wollte dafür noch mehr von einem Tiergeist annehmen. Sie war bereit, das, was sie für „menschlich“ hielt, abzustreifen, herzugeben, aufzugeben.
Ihr Wohltäter sagte einmal
„Ein Schamane wird deshalb zum Geist-Tier-Menschen, weil nur dies ein vollkommenes Wesen ist. Ein Tier würde niemals die Fehler machen, wie sie Menschen begehen.“.
Sie verstand, was er damit meinte.
Eine Hummel ließ sich nach einigem Herumschwirren auf ihren Handrücken nieder. Sie schimmerte in Schwarz und Gold, eine Hummel vom Wald.
Die Jägerin starrte auf die seltsame Hummel auf ihrer Hand. Eine solche hatte sie am wenigsten erwartet.
Sie sah Hummel mit enormer Klarheit: Das geschwollene Abdomen, schwarz als Summe aller Farben, den Körper fest, stellvertretend für die materielle Welt. Die spinnwebartigen Flügel als gerade noch sichtbarer Teil der Welt der Geister. Beides vereint in dieser Hummel.
Kälte kam mit der Hummel. Eine Kälte, die ihr in ihrem Innersten gefrieren ließ.
Einen Moment lang war da keine Hummel mehr auf ihrer Haut. Etwas Starkes, Schöpferisches lebte in dem Insekt, denn sie nahm immer stärker die Gegenwart ihrer Vorfahren wahr. Sie kamen, um an ihrer neuen Erfahrung teilzuhaben.
Doch dann überkamen sie Zweifel, ob ihr nicht doch ihr eigener Geist einen Streich spielte. Diesem Zweifel aber gab sie nicht nach. Es wäre nur eine verpasste Gelegenheit. Sie hätte nichts gewonnen, wenn sie Hummel nicht  als Geist sehen würde.-

Sie hatte sich damit entschieden und nun stand er da, robust verbunden mit der Schöpfung, um ihn ein Lichtstrahl, hingepinselt mit dem Schatten eines Blattes, die Konturen um ihn über einer Vene, die Dunkelheit eines Geistes gegen dunkle Haut.
Wie ein Schatten über ihrem Leben schien ihr der Geist.
Würde sich Hummel nicht mehr bewegen? Sitzen bleiben auf ihrer Hand für immer?
Ihre Sinne waren geschärft, angespannt und ihre Gefühle waren gepackt in Dunkelheit, blieben nahezu stumm.
Mit der Bedächtigkeit der Alten Zeit drehte sich Hummel ein wenig. Es war die Bewegung eines Redners, der seine Zuhörerschaft mustert. Facettenaugen richteten sich auf Menschenaugen. Der Thorax von Hummel pulsierte, das Abdomen zuckte.
Wenn der Geist friedvoll davon flog, dann war es ein Zeichen. Sie würde hinuntergehen in das Tal, sie würde weiterhin das Leben der Jäger und Sammler führen. Sie würde vielleicht aber jene schreckliche Wildheit, die von ihr Besitz ergriffen hat, abstreifen oder verlieren. Sie würde wieder eine Kopie der Menschen werden. Dieser Gedanke aber stimmte sie sehr traurig. 
       

Doch als sie merkte, dass sie nur in Selbstmitleid schwelgte, änderte sich ihre Stimmung schlagartig. Jetzt nahm sie das Drängen der Geister ihrer Ahnen wahr. Sie spürte jenes Reich, in dem all jene, die vor ihr gegangen waren, gefangen gehalten wurden in Verzweiflung. Sie riefen ihr zu:

„Die Welt ist aus dem Gleichgewicht gekommen und deshalb forderten die Ahnen und Geister einen Unschuldigen. Einen einzigen Menschen für all die Grausamkeit, welche die Menschheit all den anderen Wesen antut. Dies ist der Tribut, den die Menschen seit  Beginn an leisteten. Einen Unschuldigen, der aus freien Stücken in die Welt der Geister geht. Als Bote soll er kommen für all jene, die unschuldig starben.“

Dann hörte sie die Botschaft eines Geistes wie Trommelschläge, die im Rhythmus ihres Herzens dröhnten:

„Du musst einen Unschuldigen finden. Und du musst ihn töten!“

Danach war es still.
Eine Hummel hatte zu ihr gesprochen.
Die Jägerin fühlte sich aufgefordert von einem wahren, einem alten Geist: 
Töte einen Unschuldigen!
Kaum hatte sie sich dieser Worte erinnert, als sie einen Vogel rufen hörte: es klang wie das Wiehern eine Pferdes oder der Ruf eines Vogels oder der Freudenschrei eines Menschen:
Sie sprach es laut aus:
 „Jeeeaaah“
 „Jea, ich bin Jea.“
 Es war ein kraftvoller Name
 Dann sagte sie laut:

"Ich bin Jea. Ihr werdet euch erinnern, Wesen des Waldes. Erinnert euch an Jea, so wie sich die ganze Welt erinnern wird. Ich bin Jea. Zehntausend Nächte von nun an, zehntausend Jahreszeiten von jetzt, wird die Welt Jea kennen und verstehen.“
          
Sie fühlte, dass sie eine neue Identität bekommen hatte, die sie erst ergründen und verstehen musste. Sie verlor kurz die Klarheit des Geistes und fühlte das Streben beider Seelen. Alle ihre Sinne entfernten sich aus ihrem Körper, hinauf in die Baumkrone über ihr. Die Luft um sie war durchtränkt vom Sonnenlicht, dem Murmeln und der Feuchte des Baches neben ihr.
Sie konnte nicht zurück. Sie musste den Willen der Geister erfüllen. Geister waren erbarmungslos, das wusste sie. 
Jea musste töten.
Was Hummel zu sagen hatte, war gesagt und flog davon, hinauf ins Blätterwerk hoch über ihr. 




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